Kategorien Prof. Dr. Sabine Giesbrecht ➔ 05. Privatmusik ➔ 5.3 Instrumentalisten, verschiedene Instrumente ➔ 5.3.2 Gitarre


Beschreibung


Das Gitarrenspiel fand Anfang des 19. Jahrhundert eine große Verbreitung innerhalb der bürgerlichen Haus- und Salonmusik. Das Instrument war relativ leicht zu erlernen und zu transportieren. Laien nutzten die Gitarre als Begleitinstrument zu Liedern oder beispielsweise als Duo in Kombination mit Violine oder Flöte. Auffällig ist der hohe Anteil der Notenveröffentlichungen für die Gitarre, besonders als Teil eines Ensembles. Bis ca. 1860 existierten weit über 3000 Gitarrenbearbeitungen von zumeist bekannten Melodien aus populären Opern jener Zeit (SCHMITZ 1998, S. 14). Die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts gilt als Blütezeit der klassischen Gitarrenmusik. Spanische Virtuosen wie Fernando Sor (1787-1839) und Dionisio Aguado (1784-1849) oder der überwiegend in Wien wirkende Italiener Mauro Guiliani (1781-1829) prägten das internationale Konzertgeschehen. Die Virtuosen beeinflussten wiederum das Spiel der Dilettanten, welche sich nun verstärkt auch der Sololiteratur widmeten. Ab Mitte des 19. Jahrhunderts verringerte sich die Menge der veröffentlichten Notendrucke für Gitarre jedoch spürbar. Das durch industrielle Massenproduktion für breite Schichten immer erschwinglicher gewordene Klavier verdrängte die Gitarre weitgehend aus der bürgerlichen Musikkultur. In Deutschland entschwand die Gitarre aus dem Konzertbetrieb, während dagegen in Russland und vor allem Spanien auch weiterhin eine eigenständige Spiel- und Konzertkultur existierte und z.B. mit Francisco Tárrega (1852-1909) respektive seinen Schülern gar eine neue Hochphase des konzertanten Gitarrenspiels eingeleitet wurde.

Anfang des 20. Jahrhunderts genoss die Gitarre eine hohe Popularität unter den aufkommenden Jugendbewegungen, wie der zumeist aus Schülern und Studenten bestehenden Wandervogelschar (5_3_2-051, -055). Die heterogene Bewegung der Wandervögel bestand aus vielen tausend Kleingruppen, deren gemeinsamer Nenner zum einen neue Wertorientierungen und zum anderen ein ausgeprägtes Zusammengehörigkeitsbewusstsein war. Die frühen Wandervogelgruppen wiesen zunächst Züge grober Bachantik der männlichen Studentenverbindung auf. Mit der Zeit rückten Wandern, Singen, Askese und Naturerlebnis in den Mittelpunkt, wobei hier das Wandern nicht dazu diente, einen bestimmten Ort zu erreichen, sondern einen Selbstzweck erfüllte, um einen zumeist recht bescheiden gehaltenen Lebensstil zu pflegen und hierin ein Gefühl der Freiheit zu erleben. Das „Konzept der Selbsterziehung“ (ECKERT 2006, S. 298) und die Verwirklichung verschiedener Formen der Geselligkeit durch die Gruppe waren entscheidende Momente. Bedeutsame Topoi waren hierbei Freundschaftsbindungen über weltanschauliche, konfessionelle oder soziale Grenzen hinweg sowie die ungezwungene Kameradschaftlichkeit zwischen den beiden Geschlechtern. 
Nach einem Zitat des Pioniers der Zupforchester und einem der bekanntesten Gitarren- und Mandolinenlehrer dieser Zeit Konrad Wölki (1904-1983) gehörte die Gitarre „wie der Rucksack und die kurzen Hosen“ (zit. n. SEEGER 1986, S. 120) zu dieser vor dem ersten Weltkrieg eher sozialdemokratisch geprägten Jugendbewegung. Die Gitarre war hier Begleitinstrument für Lieder, die beispielsweise im 1908 von Hans Breuer (1883-1918) herausgegebenen Liederbuch Zupfgeigenhansel gesammelt wurden. Das Spiel auf der Gitarre, auch Klampfe oder Zupfgeige genannt, oder dem Zwitter, der Lautengitarre (5_3_2-029), bestand aus Akkordbegleitung und einfachem Melodiespiel. Einige Gitarristenvereinigungen sowie Publizisten sahen voller Sorge in der großen Popularität des Instruments die entscheidende Ursache für den künstlerischen Wertverlust und Niedergang der Gitarre als konzertierendes Soloinstrument (z.B. BUEK 1926, S. 33). Die enthusiastischen Wandervögel wiederum missbilligten das reine klassisch-konzertante Gitarrenspiel als „bürgerlich“ und „dekadent“ und verteidigten leidenschaftlich das „Klampfen“ auf der Wandergitarre. Bis zum Kriegsbeginn 1914 gab es kaum Schnittpunkte zwischen beiden Lagern. Erst nach Ende des Ersten Weltkriegs in den Zwanziger Jahren wurden vielfach Zupforchester aus der Arbeiter- und Wandervogelbewegung heraus gegründet und in diesem Kontext auch klassisches Repertoire einstudiert.

Bevor der große Erneuerer des Gitarrenbaus Don Antonio Torres (1817-1892) um 1856 der Gitarre ihre heute noch übliche und bewährte Form sowie konstruktiven Eigenschaften hinsichtlich der Fächerverbalkung der Decke geben konnte, wiesen die Modelle der Gitarre bis dahin ein uneinheitliches Bild auf. Verschiedene Gitarrenbauschulen produzierten für den Markt der klassischen Gitarre oder Salongitarre diverse Modelle mit voneinander abweichenden Konzepten. Es variierten die Mensuren und Umrissformen und manche Modelle wiesen entweder Einzelsaiten oder Doppelchörigkeit mit gewölbter oder flacher Decke auf. Einige Bildpostkarten (z.B. 5_3_2-003) zeigen Gitarrenmodelle, die dem Torres-Modell ähneln, wobei jedoch das Verhältnis von Oberbug zu Unterbug nicht ganz den Torres-Proportionen von 10 zu 13 entspricht, da der Unterbug im Verhältnis zu groß erscheint (5_3_2-002 bis -007). Allein ein Modell könnte der Torres-Form entsprechen (5_3_2-011): anstelle der „modernen“ seit 1778 existierenden Stimmmechaniken sind hier noch hinterständige Wirbel aus Holz verbaut. Die Sitz- und Spielhaltung der Gitarristin sowie der Titel Impromptus geben uns den Hinweis auf den Einsatz der Gitarre innerhalb des klassischen Konzertrepertoires.
Die präsentierten Gitarrenmodelle auf den gemalten Postkarten zeigen eine Vielfalt an verschiedenen Formen und Größen (z.B. 5_3_2-018 bis -022). Vermutlich haben sich hier die Maler nicht immer exakt an originalen Modellen orientiert, sondern die Gitarren zum Teil aus der Erinnerung heraus frei gestaltet. Allen Modellen ist gemeinsam, dass sie im Vergleich zum Torres-Idealtypus kleinere und abweichende Proportionen besitzen. Manche Gitarren mit niedriger Zargenhöhe, einer lang gezogenen Form sowie einer stark eingeschnittenen Taille lassen ihren Ursprung in der noch aus barocker Tradition stammenden so genannten Biedermeiergitarre vermuten (z.B. 5_3_2-022m). Charakteristisch war der einem flachen U geformte Steg, an dem die Saiten mit einem Knopf befestigt und nicht, wie bei heutigen Konzertgitarren üblich, am Steg gebunden wurden. Das Knopfsystem ist jedoch auch auf Fotografien bei Gitarren ohne U-Steg zu sehen (5_3_2-035m).
Den Großteil der dargestellten Instrumente bilden diverse Typen der Wandergitarre, die in Verbindung mit der Wanderbewegung präsentiert werden. (z.B. 5_3_2-026 bis -028, -043). Die Modelle sind ebenfalls kleiner in den Korpusdimensionen und weisen an der Zarge einen Knopf für die Befestigung des Gurtes auf, da das Instrument transportabel sein muss und während des Wanderns gespielt wird. Als weiteres Kennzeichen der Wanderbewegung lassen sich neben dem Rucksack und den typischen Kleidungsstücken wie weite Hemden, Knickerbocker oder lange Röcke und Kleider die zahlreichen bunten Bänder ausmachen, die meist vom Kopf der Gitarre herunter flattern (z.B. 5_3_2-030, -032, -038, -042).
Beliebt sind überdies Illustrationen von einsamen Frauen, die introvertiert und verträumt auf der Gitarre zupfen (5_3_2-012m, -013, -015) und „Lieder der Wehmut“ anstimmen (5_3_2-012m, -012mm). Auf anderen Postkartenmotiven singen oder spielen sie den Männern ein Lied vor (5_3_2-019, 5_3_2-045). 
Die Gitarre wurde von vielen Autoren des 19. Jahrhunderts mit dem weiblichen Geschlecht zugeschriebenen Attributen wie zart, lieblich, sanft, anmutig oder bescheiden versehen, um ihre Klangwirkung und Bauform zu beschrieben. Daraus leitete man vielfach ab, dass die Gitarre das ideale Instrument für Frauen sei. Hier verbarg sich freilich die Unterstellung, dass die Gitarre ein allenfalls begleitendes, passives und zugleich klanglich beschränktes Instrument sei, welches kein hohes musikalisches oder spieltechnisches Niveau verlangt und auch deshalb gut zur Frau passen würde, solange ein gewisser äußerlich attraktiver und zugleich musikalisch empfindsamer Eindruck gewahrt bliebe. Instrument und Spielerin gingen nach dem Rollenverständnis der männlichen Betrachter eine Art femininer Symbiose ein (SCHMITZ, 1998, S. 95-113).
Auf den Illustrationen trauter Zweisamkeit sind aber ebenso Männer am Instrument dargestellt, welche den Frauen ein Ständchen bringen (5_3_2-017, -021, 5_3_2-046).
(Edin Mujkanović)


Literatur:

BUEK, Fritz: Die Gitarre und ihre Meister. Berlin: Lienau, 1926.

ECKERT, Roland: Jugend als Utopie: Der Wandervogel. In: Herrmann Ulrich (Hg.) „Mit uns zieht die neue Zeit…“. Der Wandervogel in der deutschen Jugendbewegung. Weinheim & München: Juventa, 2006, S. 297-308.

PÄFFGEN, Peter: Die Gitarre. Geschichte, Spieltechnik, Repertoire. Mainz [u.a.]: Schott, 2002.

ROMANILLOS, José L.: Antonio de Torres. Ein Gitarrenbauer. Sein Leben und Werk. Frankfurt am Main: Brochinsky, 1990.

SCHMITZ, Peter: Gitarrenmusik für Dilettanten. Entwicklung und Stellenwert des Gitarrenspiels in der bürgerlichen Musikpraxis der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts im deutschsprachigen Raum. Frankfurt am Main: Lang, 1998.

SEEGER, Fred: Gitarre. Geschichte(n) eines Instruments. Berlin: Lied der Zeit, 1986.

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