Kategorien Prof. Dr. Sabine Giesbrecht ➔ 05. Privatmusik ➔ 5.1 Am Klavier


Beschreibung


In einer Zeit wachsender Urbanisierung gewann das eigene Heim zunehmend an Bedeutung, es wurde zur Fluchtburg, die man gegen das als unstet und chaotisch empfundene Großstadtleben abschirmen wollte. Zudem wurde der Wunsch, den eigenen Lebensraum zu gestalten (zu dem auch der Garten gehörte 5_1-003, -019), um so stärker, je weniger Einfluss man auf die gesellschaftliche Wirklichkeit zu haben meinte. Zeitschriften berichteten ausführlich über die Innenraumgestaltung und gaben dem »wohnsüchtigen« (Walter Benjamin) Zeitalter Ratschläge, wie man das Zuhause zu einem Ort der Geborgenheit und Harmonie formen konnte. Man schätzte die trauliche Geselligkeit eines gebildeten Hauses – die kleinen Arbeitstische der Frauen am Fenster (5_1_1-024), das Klavier mit frischem Blumenstrauß (5_1-011), die anheimelnde Stimmung beim Schein der Lampe (5_1_1-011, 5_1_1-025), das siedende Teewasser … 

Zugleich stellte der bürgerliche Salon jedoch auch die Verbindung zur Außenwelt her, war der Ort, an dem man Gäste empfing. Dementsprechend diente dieser Raum der Repräsentation: Bücherschränke mit Klassikerausgaben, orientalische Teppiche und große Wandgemälde signalisierten den sozialen Stand der Familie (5_1-001, -007, 5_1_1-023). Nichts aber war so sehr dazu angetan, sowohl Wohlstand als auch Bildung anzuzeigen, wie das in keinem bürgerlichen Haus fehlende Klavier. Musik, die als die höchste unter den Künsten galt, war fester Bestandteil von Familienleben wie von gesellschaftlichen Empfängen. Und selbstverständlich zeugte auch das andächtige Hören von Kunstverständnis, wie die Darstellung zahlreicher in sich versunkener, von der »Macht der Töne« ergriffener Musikliebhaber zeigt (5_1-015, -021, -023, -031).

Während der Mann seine Wirkungsstätte außer Haus hatte, war der Salon das Reich der Frau (5_1-009). In der Intimität des Hauses personifizierte sie Wohlbefinden und familiäres Glück. Das Klavierspiel gehörte zu ihrem bevorzugten Zeitvertreib, sowohl das Üben und Spielen für sich allein wie das Musizieren für Familie und Gäste. Zudem war der bürgerliche Salon der wichtigste Ort, an dem eine heiratsfähige junge Frau einen Mann kennenlernen konnte: Das kleine Salonkonzert gab ihr die Gelegenheit, auf sich aufmerksam zu machen; Klavier spielend konnte sie Gefühle ausdrücken oder sogar flirten, ohne ihren gesellschaftlichen Ruf zu gefährden. So finden wir die junge Frau am Klavier und daneben stehend oder sitzend ein junger Mann, der sie bewundernd anschaut, als eins der häufigsten Bildmotive (5_1-008, -009, -011, -019, -030). Seltener gibt es die umgekehrte Situation mit dem Mann am Klavier, hier auch mit dem Motiv der heimlichen Zuhörerin (5_1-003, -006). Auch Musikunterricht und gemeinsames Musizieren waren günstige Gelegenheiten für Kontakte (5_1-002, -004, -014); hier übernahm die Frau auch gern den Gesangspart (5_1-012, -013, -018).

Bis zum Ende des Jahrhunderts war es zu einer massenhaften Ausbreitung des Klavierspiels gekommen. Grund war, dass auch die bis dahin an der Kunstmusik kaum interessierten Gesellschaftsschichten der Handwerker und Kleinhändler an musikalischer Bildung teilhaben wollten. Sie eiferten dem Großbürgertum nach, wie dieses einst den Adel imitiert hatte. Während im großbürgerlichen Haus meist der imposante Flügel stand, wurde das Klavier das Instrument des mittleren Bürgertums (5_1-027, 5_1_1-009). Als weitere Tasteninstrumente begegnen auf den Abbildungen noch das Tafelklavier (5_1-011, -030) und das Giraffenklavier (5_1-019, 5_1_1-008m).

Titel wie »Die blühende, goldene Zeit«, »Aus alten Zeiten«, »Verklungene Lieder« schlagen einen nostalgischen Ton an und weisen auf den vielfach auch als Feldpost verschickten Karten darauf hin, dass diese Art von bürgerlicher Glückseligkeit längst der Vergangenheit angehört (5_1-001m, -006, -031). 
(Friederike Ramm)

Literatur: Sabine Schulze (Hg.): Innenleben. Die Kunst des Interieurs. Vermeer bis Kabakov 
(= Ausstellungskatalog Frankfurt a. M. 1998). Frankfurt a.M., 1998.

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