Beschreibung
»Wenn die Musik der Liebe Nahrung ist « (Shakespeare) … Wie wichtig die Musik nicht nur als Mittel der »Kontaktanbahnung« zwischen den sonst abgeschotteten Geschlechtern war – in Rahmen der Salongeselligkeit hatte die auf den häuslichen Bereich eingeschränkte junge Frau Gelegenheit, einen Mann kennenzulernen, konnte Klavier spielend auf sich aufmerksam machen –, sondern dass die Musik auch das erste verliebte Näherkommen erleichterte, machen die Abbildungen dieser Rubrik deutlich. Mit Hilfe der Töne konnte eine junge Frau Gefühle ausdrücken, dem Auserwählten ihre Gewogenheit signalisieren, ohne gegen die gesellschaftlichen Konventionen zu verstoßen (»ohne Worte …«,
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Die Titel dieser Salonstücke geben nicht selten diese öffentliche und doch geheime Verständigung zwischen den Geschlechtern wieder: »Mädchentraum«, »Liebesgeflüster«, »Schmeichelkätzchen«, »Liebesblicke«, »Sprechen Sie mit Mama«. Diese sogenannte »Backfischliteratur« erfüllte eine wichtige soziale Funktion, weshalb der Schriftsteller Marcel Proust davor warnte, sie der Verachtung preiszugeben. Je öfter die Salonmusik gespielt würde, desto mehr »füllt sie sich allmählich an mit den Träumen, den Tränen der Menschen. Deshalb soll sie euch verehrungswürdig sein. Ihr Platz ist sehr tief in der Geschichte der Kunst, ungeheuer hoch aber in der Geschichte der Gefühle innerhalb der menschlichen Gesellschaft. […] Wieviele Melodien, die in den Augen eines Künstlers ganz wertlos sind, sind aufgenommen in den Kreis der vertrauten Freunde von tausend jungen Verliebten oder romantisch Lebenshungrigen.« (
9_3-014)
Das gemeinsame Musikerlebnis, die rauschhaften oder sentimentalen Klänge setzen Emotionen frei und ebnen den Weg für das Liebesgeständnis, für den ersten Kuss, für den Heiratsantrag (
9_3-007,
-011). Auch gemeinsames Musizieren, insbesondere das vierhändige Klavierspiel, bietet günstige Gelegenheiten für verliebte Kontakte: durch die räumliche Annäherung, durch zufällige oder gewollte Berührungen …(
9_3-002,
-006,
-024). Anders als in der Rubrik »Solo am Klavier« (
5.1.1), wo die für sich allein spielende Frau im repräsentativ ausgestatteten Salon manchmal etwas verloren wirkt und der Blick durch das offene Fenster Sehnsucht andeutet (
5_1_1-018 bis
-020), ist hier die Szene stets ganz auf das verliebte Paar konzentriert, die abendliche Stimmung, die Lampe auf dem Klavier vermitteln Geborgenheit (
9_3-001,
-010,
-011,
-012). – Doch nicht nur als »Liebes-Akkord« fungiert die Musik, ab und zu ist sie auch Ausdruck für Verstimmungen (
9_3-016) oder sogar für Trennung und Abschied (
5_1-007) – hier steht das Klavier wie eine Schranke zwischen den Beteiligten.
(Friederike Ramm)
Literatur: Dieter Hildebrandt: Pianoforte. Der Roman des Klaviers im 19. Jahrhundert, 3. Aufl., Kassel/München 2002).