Beschreibung
Der erste Männerchor wurde 1809 in Berlin von
Friedrich Zelter gegründet. Diese »Liedertafel« hatte als Ziel, Männer mit gleicher »idealer« Gesinnung, aber verschieden in Beruf und Stellung, in der begeisterten Liebe zum Gesang zu vereinen. Nach diesem Vorbild gründeten sich vor allem in Norddeutschland viele Vereine. Zur gleichen Zeit entstanden im süddeutschen Raum zahlreiche »Liederkränze« nach dem Vorbild
Hans Georg Nägelis, der 1810 in Zürich einen ersten Männerchor ins Leben gerufen hatte. Es folgten zahlreiche Kompositionen für vierstimmigen Männerchor, so u. a. von
Weber,
Silcher,
Mendelssohn Bartholdy,
Schubert.
Die Vereine schlossen sich zu regionalen Bünden zusammen und feierten gemeinsame Gesangsfeste. 1862 wurde der Deutsche Sängerbund gegründet, ein Zusammenschluss von damals 41 Bünden. Laut Satzung bezweckte der Deutsche Sängerbund »die Ausbreitung und Veredelung des deutschen Männergesanges und die Förderung deutschen Sinnes. Durch die einigende Kraft des deutschen Liedes will er das deutsche Volksbewusstsein und das Gefühl der Zusammengehörigkeit der deutschen Stämme erhalten und stärken« (§ 1).
Neben dieser »vaterländischen« Bedeutung hatten die Vereine auch eine wichtige soziale Funktion. Neben den wöchentlichen Singstunden, bei denen man sich für Kunst und Geselligkeit zusammenfand, gab es auch Sängerreisen in andere Städte oder Regionen (
4_5-113,
-114), wo man sich gern mit befreundeten Vereinen traf und Stätten von nationaler Bedeutung besuchte (
4_5-043). Ein besonderer Höhepunkt waren Konzerte und insbesondere die Sängerbundesfeste, die im Abstand von fünf bis acht Jahren stattfanden. Hier traf man Sänger aus allen Teilen des Landes und auch Vereine von im Ausland lebenden Deutschen. Zu dem ersten Sängerbundesfest in Dresden 1865 waren 16000 Sänger angereist, einige sogar aus Amerika und China. Weitere Feste fanden 1874 in München, 1882 in Hamburg, 1890 in Wien, 1896 in Stuttgart (
4_5-116), 1902 in Graz (
4_5-115) und 1907 in Breslau (
4_5-110) statt. Oft wurden die riesigen Festhallen extra für diesen Anlass errichtet, sie fassten mehrere Zehntausend Sänger und Zuhörer. Zum fünfzigjährigen Jubiläum 1912 in Nürnberg (
4_5-028 bis
-031,
-047) hatten sich 38000 Sänger angemeldet und es kamen sogar noch viel mehr. Allein auf der Bühne war Platz für 15000 Sänger, denn die »einigende Kraft« des gemeinsamen Singens hatte oberste Priorität. 1924 in Hannover (
4_5-037) fanden die Hauptkonzerte erstmalig im Freien statt. Neben den beiden Hauptkonzerten im Stadion gab es noch 16 Sonderkonzerte einzelner Vereine oder Bünde an verschiedenen Aufführungsstätten. Ein reizvoller Programmpunkt waren auch die großen Festumzüge, in denen sich die verschiedenen Vereine und Bünde mit Wagen präsentierten (
4_5-007a,
-116). Zu jedem Sängerfest gab es offizielle Festpostkarten, mit denen man einen Gruß an die Daheimgebliebenen schicken konnte (
4_5-002b,
-002c u. v. a.).
Eine weitere wichtige Veranstaltung war das Kaiserpreissingen, das 1899 erstmalig in Kassel stattfand (
4_5-003 bis
-005). Nach dem Wunsch des Kaisers sollte der Gesangswettstreit ein allgemeines deutsches Volksfest sein, zur Stärkung des nationalen Zusammenhalts. Gestiftet war als Wanderpreis eine goldene Kette mit der Aufschrift »Im Liede stark, deutsch bis ins Mark«. Tatsächlich nahmen aber nur 18 Vereine mit 2660 Sängern teil, da Wettstreite in Deutschland damals eher unüblich waren. Die nächsten Preissingen fanden 1903, 1909 und 1913 in Frankfurt statt (
4_5-012,
-045,
-046), zuletzt mit immerhin 41 Vereinen und über 9000 Sängern. Besonders erfolgreich waren bei diesen Wettstreiten die Lehrergesangsvereine (
4_5-002a,
-006), die zu den künstlerisch leistungsstärksten gehörten.
Die Mitgliederzahlen der Männergesangsvereine reichten bis zu mehreren hundert; es gab aber auch Kammerchöre mit fünfzehn bis zwanzig Sängern. Fast jeder Männergesangverein hatte ein Soloquartett, manchmal auch mehrere Doppelquartette, die selbstständige Konzerte gaben und zum Teil als Berufskünstler anzusehen sind (
4_5-007a,
4_5-017,
-023,
-024). Eins der berühmtesten Ensembles war das »Koschatquintett« (
4_5-018a;
4_3-019a).
In den Arbeitersängervereinen wurde im großen Ganzen das gleiche Repertoire gepflegt wie in den bürgerlichen Vereinen, nur stand hier statt der vaterländischen Gesänge das Arbeiterlied im Mittelpunkt. Hervorgegangen aus den Arbeiterbildungsvereinen oder den Vereinen der Arbeiterbewegung der 1860er und 1870er Jahre, schlossen sich auch diese Gesangsgruppen in einem übergeordneten Bund zusammen, dem Deutschen Arbeitersängerbund (1908). Anders als der Deutsche Sängerbund nahm der Arbeitersängerbund (
4_5-026,
4_5-026m) auch Frauen- und gemischte Chöre auf. Das erste Arbeitersängerbundesfest fand 1928 in Hannover statt (
4_5-094,
-095).
Der erste Männergesangsverein an einer Universität wurde 1816 in Jena gegründet, es folgten weitere u. a. in Breslau, Leipzig, Halle, Gießen. In der Geschichte vieler studentischer Sängervereinigungen stellte sich früher oder später die Frage, ob der Gesang an erster Stelle stehen sollte, oder ob man sich als farbentragende Verbindung verstand, in der die Musik neben den feucht-fröhlichen »Kneipen«, den Bällen und dem Fechten nur eine untergeordnete Rolle spielte (vgl. Rubrik
2.2.3.2). Der »Sondershäuser Verband« (nicht-farbentragend) geht in seinen Ursprüngen auf das Jahr 1867 zurück und erhielt seinen Namen von der thüringischen Stadt Sondershausen, in der die Verbandsfeste stattfanden (
4_5-066 bis
-072). Die farbentragenden Sängerschaften (
4_5-089) schlossen sich in der »Deutschen Sängerschaft« (Weimarer C.C.) zusammen. Die akademischen Vereine identifizieren sich meist über ihr Wappen (
4_5-063 bis
-065,
-073), ihr Verbindungshaus (
4_5-059,
-081,
-086) oder auch die Universitätsstadt (
4_5-075,
-083,
-088). Hier sind oft auch die jährlich stattfindenden Stiftungsfeste und Stiftungsfest-Ausflüge der Anlass, eine Karte zu verschicken (
4_5-060,
-061,
-083).
Einige Postkarten haben eine humoristische Note (
4_5-039 bis
-042). Denn so manchem Männerchor wurde »Liedertafelei« vorgeworfen: Nicht nur das Bierglas unter dem Stuhl, sondern auch die als mangelhaft empfundene Qualität der Darbietungen war Zielscheibe des Spottes (
4_5-040). Humoristische Postkarten, auf denen die Sängermanie aufs Korn genommen wird, zitieren gern das Lied
»Wir sind die Sänger von Finsterwalde« (mit der Textzeile »Wir leben und sterben für den Gesang«) aus dem gleichnamigen Theaterstück von
Wilhelm Wolff (
4_5-016,
-041,
-041m).
(Friederike Ramm)
Literatur: Richard Kötzschke, Geschichte des deutschen Männergesanges, hauptsächlich des Vereinswesens. Dresden 1927; Franz Josef Ewens, Das deutsche Sängerbuch. Wesen und Wirken des Deutschen Sängerbundes in Vergangenheit und Gegenwart.