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Beschreibung


Anton Günthers Lieder und die Anfänge der Liedpostkarte

Der erzgebirgische Musiker, Dichter, Lithograph und Geschäftsmann Anton Günther gilt als Erfinder der Liedpostkarte, die Noten, Text und Bild vereint. Günther wurde am 6. Juni 1876 in Gottesgab, in der österreichisch-ungarischen Monarchie (heute Boží Dar in Tschechien), als eines von sieben Kindern geboren. Sein Vater, ein ehemaliger Bergmann und Musterzeichner, betrieb nebenbei eine kleine Landwirtschaft und spielte als Musiker in den Gasthöfen der Umgebung. Als Junge lernte Anton Günther autodidaktisch Geige, Gitarre und Zither zu spielen. Er besuchte die Bürgerschule im fünf Kilometer entfernten böhmischen Joachimstal (heute Jachymov). Mit gutem Schulabschluss und als talentierter Zeichner begann er eine Lehre zum Lithografen bei Eduard Schmidt im sächsischen Buchholz. Nach der Lehre arbeitete er ab 1895 als Lithograf an der k. u. k. Hoflithographie-Anstalt Andreas Haase in Prag.
In Prag schrieb Günther sein erstes Lied mit einem Text in erzgebirgischer Mundart, „Drham is Drham“, für einen Kreis von Personen aus seinem Heimatort, die sich wöchentlich zu einem „Guttsgewer Omden“ (Gottesgaber Abend) trafen. Sein Vortrag des Liedes, selbst begleitet auf der Gitarre, wurde ein Erfolg und Günther fertigte eine Lithografie mit dem Text und dem Bild eines schneebedeckten Nadelbaums und einer erzgebirgischen Wohnstube dazu. Die Lithografie ließ er in kleiner Auflage vermutlich bei seinem Arbeitgeber auf Postkarten drucken. Das Lied verbreitete sich schnell und Günther ließ weitere 1.000 Postkarten produzieren. Die grundlegende Idee der „Liedpostkarte“ war geboren, auch wenn die erste Karte noch keine Noten aufwies.
1899 erschien das „Klippl-Lied“ als eine der ersten Postkarten mit der Melodie für eine Singstimme. Die Karte war richtungsweisend für alle weiteren Liedpostkarten. Auf den frühen Liedpostkarten schreibt Günther die Melodien in einer eigenen, ungeübten Notenschrift. Die Hälse der Noten sind oft an der falschen Seite des Kopfes angebracht und zeigen in die falsche Richtung.[1] Dieses Merkmal macht es leicht, frühe Liedkarten-Ausgaben zu identifizieren. Im Verlaufe der Zeit korrigiert er sein Notenbild und verbessert es auch bei Neuauflagen alter Liedkarten.
Die Motive für seine Lieder und Illustrationen fand er in seiner Heimat und den aktuellen politischen Ereignissen seiner Zeit. Auch die zweite Liedkarte „Allerhand ve dr Guttsgoh“ (1895) drehte sich, wie viele folgende, um das Alltagsleben in und um Gottesgab und seine persönlichen Erfahrungen. „‘S Eirück‘n“ z.B. schrieb er im Zusammenhang mit seinem Militärdienst 1899. Seine Prager Texte sprechen immer wieder von der Sehnsucht nach der böhmisch-sächsischen Heimat, so z.B. in dem 1901 auf Karte gedruckten Lied „Mei Vaterhaus“.
Bis zum Beginn des ersten Weltkrieges entstanden 58 Liedpostkarten. In diese fruchtbare Schaffensperiode fallen solche zum Teil bis heute bekannten Lieder wie „Feieromd“ (1903), „De Draakschenk“ (1904), „Wu de Wälder hamlich rausch‘n“ (1905), „Mei Großmütterla“ (1905) oder der „Schneeschuhfahrer=Marsch“ (1912).
Immer wieder nahm er auch politisch Stellung, z.B. in „Deitsch on frei wolln mr sei“ (1908) oder noch deutlicher in „Deitschböhmerland“ (1913). Mit Beginn des Ersten Weltkriegs 1914 schrieb er „Hurra! ‘S gieht los“, „Landschtorm-Marsch“ und „D’r Kaiser ruft ins Feld“. Insgesamt entstanden in den Kriegsjahren achtzehn Lieder. Nach dem Krieg wurde der österreichische Teil des Erzgebirges der neu gegründeten Tschechoslowakei zugesprochen. Er kommentierte die Entwicklung mit den Liedern „Scham dich fei“ (1919) und „Da fallischa Politik“ (1920) sowie „Denk drah, deß du e Deitscher bist“ (1924). 1933 begrüßte Günther den Nationalsozialismus in Deutschland und die Einigungsbewegung der „Sudetendeutschen Heimatfront“ unter Konrad Henlein in der Tschechoslowakei. Auf einer Kundgebung Henleins im Frühling 1935 in Joachimsthal trug Günther sein Gedicht „Der neie Wind“ vor.[2] Am 5. Juni 1936 feierten Verehrer aus dem gesamten Erzgebirge Anton Günthers 60. Geburtstag.[3] Am 29. April 1937 schied er freiwillig aus dem Leben.
Der Erfolg von Günthers Liedern im böhmischen wie sächsischen Teil des Erzgebirges knüpft an eine lange Tradition mundartlicher Lieder dieser Gegend an.[4] Seine Texte griffen Themen auf, die die Region zu seiner Zeit bewegten. Der Heimatgedanke z. B. spielte im Erzgebirge als einer politisch und konfessionell geteilten Region eine wichtige Rolle. Die Texte spiegeln aber auch den Militarismus und Hurra-Patriotismus der Kaiserzeit sowie den Nationalismus, der für die deutschsprachige Bevölkerung im 1920 der Tschechoslowakei zugeschlagenen böhmischen Teil des Erzgebirges auch eine Frage der Identität war. Günthers Melodien sind fasslich, einprägsam und gut singbar. Zum Erfolg trug aber auch eine Marketingstrategie bei, die auf dem um 1900 noch jungen Medium der Postkarte aufbaute.
In Zeiten mit wenigen Massenkommunikationsmitteln war die Postkarte eine effektive Möglichkeit, die Lieder zu verbreiten. Bis 1944 kamen die Karten in Eigenverlagen der Günthers heraus. Vater Johann gründete 1899 den “Verlag von Joh. Günther, Gottesgab No.113“, um die Liedkarten in größerer Auflage zu vertreiben. Den Druck und den professionellen Vertrieb übernahm die Druckerei Wilhelm Vogel, Schwarzenberg im Erzgebirge.[5] Auch Bruder Julius war mit seinem Hausierhandel und dem Andenkenverkauf im Gottesgaber Gasthof „Tiroler“ am Vertrieb beteiligt.[6] Als Vater Johann starb, kehrte Anton nach Gottesgab zurück, übernahm 1902 die kleine Familien-Landwirtschaft und führte den Postkarten-Selbstverlag unter seinem Namen weiter. Geschickt nutzte er alle Möglichkeiten, um die Karten anzubieten: bei seinen Auftritten, bei Reisen im Zug und beim Wandern. Auch die „Hannelsmah“, wie fliegende Händler im Erzgebirge hießen, halfen, Günthers Lieder zu verbreiten.[7]
Schon 1906 gab er vier Serien mit je zehn Liedpostkarten zum Preis von zehn Heller in Österreich bzw. zehn Pfennig in Deutschland heraus. Ebenso bot er für 13 seiner Lieder Noten mit Klavierbegleitung für 1,20 Kronen bzw. 1,00 Mark an. Darüber hinaus fertigte er später auch Grußkarten oder Karten mit mundartlichen Sprüchen, Geschichten und Gedichten. Von der Liedpostkarte „Wie dr Schnawl stieht“ (1903) gab er fünf verschieden Versionen, jede mit einem anderen Selbstporträt heraus.
Mit „Da Ufnbank“ und „Bleib'n mr noch a weng do“ erschienen 1907 die ersten Lieder auf Schallplatte beim Label Kalliope in Leipzig. Bis 1929 nahm er insgesamt 27 Schallplatten auf.[8] Günther begleitete sich auf den Aufnahmen oft selbst auf der Gitarre. Ab 1910 trat er gemeinsam mit seinem Freund, dem Lehrer, Schriftsteller und Heimatdichter Max Wenzel[9] auf. 1911 gab er im Selbstverlag ein 97-seitiges Liederbuch mit dem Titel „Vergass dei Hamit net! Ant. Günther‘s Lieder aus dem Erzgebirge“ heraus.
Vermutlich im Herbst 1917 nahm der Leiter des Leipziger Verlages Friedrich Hofmeister, Carl Wilhelm Günther, Kontakt zu ihm auf. Anton Günther, der zu dieser Zeit verwundet im Lazarett lag, schloss am 11. November 1917 einen Vertrag ab, mit dem vorerst 75 seiner Lieder in das Eigentum des Verlages übergingen. Der Vertrag wurde mehrmals erweitert, letztmalig 1938 durch seinen Sohn Erwin. Die Gesamtzahl der bei Friedrich Hofmeister veröffentlichten Anton-Günther-Lieder stieg nach Aussage Erwin Günthers auf 135.[10] Erwin Günther war möglicherweise nicht bekannt, dass Anton Günther manche seiner Gedichte später dem Verlag mit Melodie versehen zur Veröffentlichung übergeben hat. Tatsächlich ergeben sich 144 Lieder (s. die anhängende Liste). 
Als Günther im Herbst 1918 als kriegsuntauglich entlassen wurde, veröffentlichte er laut seinem Verzeichnis Nr. 2 „sämtliche [bis dahin] erschienenen Lieder in erzgeb. Mundart (Worte und Weise von Anton Günther) für Klavier und Gesang“ in 5 Heften zu 5 Mark mit je 10 Liedern. Die Überschrift für Heft 5 lautete „Kriegslieder“ (s.u. Nrn. 89-90, 93, 94, 97, 101, 100). Im Verzeichnis bietet er noch 31 Einzelausgaben für Klavier und Gesang für je 1,20 Mark an.[11]
Die größten Editionen des Verlages Friedrich Hofmeister Leipzig[12] sind bis 1937 18 Bände (Hefte) seiner Liedtexte, Gedichte und Erzählungen[13] sowie 21 Bände „D‘r Toler Hans Tonl, Anton Günthers Erzgebirgslieder mit Klavierbegleitung“ mit je sechs Liedern in der Instrumentierung für Klavier. Die Klavierbegleitung richteten der Leipziger Oberlehrer Artur Henschel (1865-1934)[14] und der Komponist Theodor Salzmann (1854-1928) ein. Anton Günther selbst hatte bereits in seinem 1906 gedruckten ersten Verzeichnis sämtlicher bis dahin erschienener Lieder in erzgebirgischer Mundart einen Band mit zwölf Liedern für Klavier mit Gesang angeboten. Es ist zu vermuten, dass auch hier schon einer von beiden der Arrangeur war. Für viele der einfachen Melodien ließ der Verlag auch Noten für die Begleitung mit Gitarre (6 Bände), Zither (5 Bände)[15] oder Chorgesang arrangieren und erweiterte damit die Popularität und Aufführungsmöglichkeiten der Lieder. Die Einrichtung für Gitarre nahmen Heinrich Scherrer (1865-1937),[16] der Kirchenmusikdirektor Richard Wagner aus Buchholz sowie seltener Theodor Salzmann vor. Wagner und der Altenburger Lehrer Erich Putze arrangierten auch viele Günther-Lieder für Kinder-, Frauen- und Männerchor. Die Zither-Begleitungen „in Münchner und Wiener Stimmung“ arrangierte Stefan Seidl (1868-1939).[17] Die vom Verlag veröffentlichten und vom versierten Arrangeur Paul Körke für Salonorchester eingerichteten Anton-Günther-Melodien wurden vom Platten-Label Ultraphon und vom Paul-Godwin-Orchester bei der Deutschen Grammophon eingespielt.[18] Der Komponist, Arrangeur, Akkordeon- und Bandoneonvirtuose Walter Pörschmann (1903-1959)[19] machte Günther über seine Arrangements für Akkordeon weiter bekannt. Bernhard Schneider und der Komponist Franz Willms (1893-1946) bearbeiteten einige Günther-Lieder für vierstimmigen Männerchor, wie z.B. „Da Ufnbank“. Diesen Titel veröffentlichte der Musikverlag allerdings auf Hochdeutsch als „Die Ofenbank“.[20] Bis etwa 1954 verlegte der Friedrich Hofmeister Verlag Günthers Notenalben und Einzelblätter.[21]
Die Erbengemeinschaft Günthers beschreibt auf ihrer Internetseite[22] 86 Liedpostkarten als geschlossene Einheit, weil Text, Notenbild und Zeichnungen Anton Günthers Eigenschöpfungen sind. Es ist nicht mehr genau zu rekonstruieren, wie hoch die Auflagen seiner Lied-Postkarten waren. Manfred Blechschmidt schätzte 1976 sehr vage, dass nach 1925 von einer Produktion von über 200.000 erzgebirgischen Mundartkarten ausgegangen werden könne. Der Anteil Anton Günthers daran betrüge mehr als ein Drittel.[23] Bis heute sind die Liedpostkarten in erzgebirgischer Mundart gefragte Sammlerobjekte. Darüber hinaus hinterließ er ca.125 nicht vertonte Liedtexte,[24] etwa 110 Sprüche und mehr als 40 Erzählungen.[25]
Günthers Erfolg fand schnell Nachahmer, die ähnlich gestaltete Liedkarten herausgaben. Die bedeutendsten waren der ehemalige Porzellanmaler Hans Soph aus Zwickau, Willy Kaufmann aus Lugau, Hilmar Mückenberger aus Plauen im Vogtland (ca. 35 Liedpostkarten im Selbstverlag), Otto Peuschel aus Crottendorf und Max Nacke.[26]

(Günter Sonne)

>> Zum Verzeichnis der Lieder Anton Günthers (pdf download)
 

[1] Liedpostkarte „Klippl-Lied“ von Anton Günther, Erstausgabe 1899, Verlag von Joh. Günther, Gottesgab No. 113, ebenso bei Liedpostkarten „Da Ufnbank„, „‘s Eirück`n“ und „‘s fallischa Nannl!“. 
[2] Kerstin Kiehl: Anton Günther - Eine Darstellung seines Lebens und der sich wandelnden Sichtweisen seines Werkes, Wiss. Arbeit im Rahmen der ersten Staatsprüfung für das Lehramt an Grundschulen an der TU Chemnitz-Zwickau, 1994, S. 34.
[3] Gerhard Heilfurth, Isolde Maria Weineck: Anton Günther, Erzgebirgische Lieder, Frankfurt am Main: Verlag Wolfgang Weidlich, 1983, S. 35.
[4] Heilfurth, Weineck: Anton Günther, S. 33.
[6] Heilfurth, Weineck: Anton Günther, S. 26.
[7] Manfred Günther, Lutz Walther: Anton Günther, Freiheit zwischen Grenzen, die Biographie, Friedrichsthal: Altis Verlag GmbH, 2011, S. 302-304.
[8] Anton Günther: „Da Ufenbank“, Leipzig: Kalliope 1907; s. das Digitalisat der Mediathek der Staats- und Universitätsbibliothek Dresden URL: http://mediathek.slub-dresden.de/ton70901518.html (letzter Zugriff 15.03.2024). Zu den Aufnahmen s. Klaus Krüger, Reiner Lotz: Discographie der deutschen Kleinkunst (= Deutsche National-Discographie Ser.1), Band 5, Bonn: Birgit Lotz Verlag 1998, S. 1247-1252.
[10] Manfred Günther, Lutz Walther: Anton Günther, Freiheit zwischen Grenzen, die Biographie, Friedrichsthal: Altis Verlag GmbH, 2011, S. 305.
[11] Sächsisches Staatsarchiv Leipzig, 21072 Friedrich Hofmeister, Leipzig, Archivaliensignatur 116, Erzgebirgische Lieder, Prospekte, Anzeigen.
[12] Sächsisches Staatsarchiv Leipzig.
[13] Gerhard Heilfurth (Hrsg.): Anton Günther, Gesamtausgabe der Liedertexte, Gedichte, Sprüche und Erzählungen, Schwarzenberg: Glückauf Verlag, 1937, S. 301-303.
[14] URL: https://worldcat.org/identities/viaf-80191081/ (letzter Zugriff 02.09.2021).
[15] Lager Katalog Friedrich Hofmeister GmbH, Musikalien Großsortiment, Leipzig C1, Hofmeisterhaus 1935, Günther, Anton, Best.-Nr. 4332a/f - für Gitarre, Best.-Nr. 4333a/e - für Zither.
[19] URL: https://de.wikipedia.org/wiki/Walter_Pörschmann (letzter Zugriff 02.09.2021).
[20] Hofmeisters musikalischer-literarischer Monatsbericht 107 (1935), Nr. 4, S. 86.
[21] Auf eine Nachfrage des Verfassers teilte der Verlag mit, dass ihm genauere Aussagen zum Vertragspartner Anton Günther nicht mehr möglich seien. S. Email-Verkehr des Autors mit dem Friedrich Hofmeister Musikverlag, Leipzig, Mai 2021.
[22] URL: http://www.anton-guenther.de/aguenther/html/lebenswerk.htm (letzter Zugriff 02.09.2021, seit 2022 eingestellt, aber auf https://archive.org/web/ archiviert).
[23] Manfred Blechschmidt: Die Liedpostkarte in der erzgebirgischen Musikfolklore, in: Erzgebirge 1976 Jahrbuch Kulturbund der DDR, Redaktion „Der Heimatfreund für das Erzgebirge“, Stollberg 1976, S. 40.
[24] Günther, Walther: Anton Günther, S. 78, 108, 152, 194, 236, 294 (s. Anm. 16).
[25] Anton Günther, Gerhard Heilfurth: Gedichte Sprüche und Erzählungen. Schwarzenberg: Glückauf Verlag 1937, S. 298, 299.
[26]  Manfred Blechschmidt: Die Liedpostkarte in der erzgebirgischen Musikfolklore, in: Erzgebirge 1976 Jahrbuch Kulturbund der DDR, Redaktion „Der Heimatfreund für das Erzgebirge“, Stollberg 1976, S. 43.
 
Ausdrücklich möchte ich mich bei Dietrich Helms bedanken, denn ohne seine  Anregungen und Hinweise hätte der Beitrag nicht erscheinen können. 

 

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